Die Idee Perceptio...
...ist der Beginn einer sich entwickelnden Portfolioserie, welche schwer-punktmässig die visuelle Emotionalität anspricht. Im Gegensatz zur dokumentarischen Fotografie wie zB.im Makroforum geht es deshalb bei diesen Bildern vordergründig nicht um Detailgenauigkeit. Bei der oberflächlichen Bildbetrachtung wird man in vielen Fällen nicht einfach sofort alle Inhalte erfassen können, es sind keine rasch konsumierbare "Ketchupfotos", denn man wird sich mit dem Bild beschäftigen und versuchen müssen, die Stimmungen im Bild bei sich selbst anklingen zu lassen. Das wird etwas Zeit brauchen, und sicher werden nicht alle Bilder Allen gefallen können. Das war aber auch nie meine Intention.
Die Inspiration zur Bearbeitung der RAW Bilder zu Perceptio kommt von Dr. Marlene Schnelle-Schneyder, die in ihrem Buch "Sehen und Photogra-phieren" (ISBN = 3-540-43825 - Springer-Verlag 2003) Unterschiede zwischen sehen (als neuro-physiologischen Prozess) und fotografieren bzw. malen/zeichnen als zweidimensionales Handwerk beschreibt. Die Frage nach der "Wahrheit" eines Bildinhaltes wird in diesem wunderschönen Buch thematisiert, und der fliessende Übergang von Wirklichkeit zur Philosophie angesprochen. Eine erste, kleine Literaturliste zu diesen Fragen finden Sie auf der folgenden Seite.
Die über unsere Augen in unser Gehirn gelangenden Lichtsignale (Farben Grauwerte) werden schon auf der Stufe der Netzhaut, dann auf dem Weg zum primären Sehzentrum prozessiert und anschliessend in wenigstens fünf verschiedenen Regionen der Grosshirnrinde (Regionen für Form, Farbe, Identifikation, Position, Bewegung) durch Selektions- und Abstraktions und/oder Reduktionsprozesse zu einem wahrgenommenem Bild verarbeitet. Bei diesen Prozessen werden zudem nicht nur alle anderen Sinnesorgane miteinbezogen, sondern auch tiefer liegende Schaltzentren, die für die Modulierung unserer Emotionen wichtig sind. Eine ganz entscheidende Rolle bei diesen komplexen Verschaltungen spielen die Gedächtniszentren, ohne die Bilder von unserem Gehirn gar nicht "richtig" interpretiert werden können. Solche neuronale Verschaltungen werden im Kleinkindalter beim heranwachsen unter Einbezug aller Sinnesorgane "entwicklungsgerecht eingerichtet ".
Nun, die hier gezeigten Bilder haben natürlich mit den soeben anges-prochenen neuro-physiologischen Prozessen wenig zu tun. Der Versuch sich solche Prozesse vorzustellen haben aber bei Perceptio zu einer Bildbe-arbeitungsstrategie inspiriert, bei der die digitalen RAW-Daten je nach Bildart zuerst in einen chaotischen Zustand "zurückgefiltert" werden um dann anschliessend selektiv und reduzierend wieder in ein "ansehbares" Bild umgewandelt und mit den üblichen Mitteln der "klassischen" elektronischen Bildverarbeitung fertiggestellt zu werden. Dabei werden keine neuen Bildelemente zugefügt (also keine Collagen!), lediglich der Pixelwirrwarr wird neu geordnet.
Was eine Fotografie soll und kann, oder was eben nicht, kann technisch wohl besprochen, in Bezug auf Wahrheit und Objektivität aber niemals definiert werden. Wie im Buch von Schnelle-Schneyder schon ausgeführt wurde, spielen im frühen Kindesalter die Lernprozesse zur Ausbildung unseres Sehempfindens eine zentrale Rolle, und solche Lernprozesse werden von der Umwelt direkt beeinflusst. Das kommt auch sehr deutlich zum Ausdruck, wenn man sich die Geschichte der Fotografie anschaut. Quentin Bajac, Leiter der Photographieabteilung im Centre Pompidou (Paris), zeigt dies in seinem geschichtlichen Ueberblick sehr anschaulich (La photographie du dagueréotype au numérique, Gallimard 2010, ISBN 978-2-07-013066-5) Die Ent-wicklung der Fotografie wurde immer schon stark von Künstlern geprägt, aber auch umgekehrt entwickelten Maler neue Maltechniken, die ohne Fotografie wohl kaum
entstanden wären. Man denke nur an das "einfrieren" von Bewegungen wie bei Wasser, Menschen, Tieren oder neuen Perspektiven. Es entwickeln sich in der Kunstszene laufend neue Sehgewohnheiten, doch nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Dokumentation.
So wird die Neutralität einer Dokumentation in der "Wahrheitsfindung" oft sehr kontrovers diskutiert, denn eine Dokumen-tation wird mit den Mitteln der Fotografie immer mehr oder weniger ausgeprägt in eine bestimmte Richtung gelenkt, beschönigt, dramatisiert, verzerrt etc. Das ist eigentlich auch leicht nachvollziehbar, denn jeder Fotograf will ja eine Aussage, seine Aussage machen. Das gilt für die Boulevardpresse genauso wie für Publikationen jeglicher Art von beschaulichen Landschafts-malern/Fotografen, von Kriegsreportern, von Portraitsbildnern, Schnapp-schussfotografen bei einer Kongressdebatte oder im Familienkreis etc. etc. Die Fotog-rafie ist ein Handwerk und jeder Handwerker hinterlässt auf seinen Werken persönliche Spuren. Unterschiedliche Spuren hinterlassen aber auch die verschiedenen zur Errechnung eines Bildes verwendeten Softwares von Foto-apparaten.
Der Psychologe Professor Martin Schuster der Universität Köln (Fotos, sehen, verstehen, gestalten; Springerverlag 2005, ISBN 3-540-21929-3) thema-tisierte den Wertebegriff einer Fotografie mit den Sehgewohnheiten unserer Zeit aus verschiedenen Gesichtswinkeln, wobei je nach Intention eines Bildes zB. als Erinnerung, als Hilfsmittel in der medizinischen Therapie, als soziales "Kittme-dium", als Informationsträger für die Tagespresse etc. etc. eben unterschiedliche Bewertungsmasstäbe angewendet werden müssen. Absolute Wertmasse für ein Sehempfinden, das heisst, wie schon erwähnt, die absolute Bildwahrheit kann es gar nicht geben.
Die Kontroverse über Wahrheit und Legitimität eines Bildes, also auch einer Fotografie kann somit nie abschliessend diskutiert werden und ist deshalb meist müssig. Eine solche Diskussion wird je nach Entwicklung der kulturellen Wertvorstellungen einer sich immer wandelnden Zeit neue Fragen aufwerfen, ja eben immer wieder neu entfacht werden und immer weiter gehen. Leider werden die ethnisch geprägten Unterschiede eines Sehvermögens von Schnelle-Schneyder und Schuster in ihren Büchern nicht besprochen. Das wäre von der biologischen Entwicklungsgeschichte her betrachtet sicher sehr interessant.
Gibt es in diesem Spannungsfeld einer kontroversen Bildbetrachtung Grenzen des "Erlaubten", die nicht übreschritten werden dürfen? Ja sicher gibt es die, zumindest gemäss unseren europäischen und christlich geprägten Kuturvorstellungen ganz sicher dann, wenn Menschen zB. durch Sexualkrimi-nalität oder Mobbing ua. direkt geschädigt werden. Eine fotografische Dokumen-tation über solche Akte sind fragwürdig, aber welche Fragen denn müssen oder dürfen dabei gestellt werden? Einmal mehr setzen kulturelle Wertvorstellungen einer Zeitepoche dazu ihre Masstäbe. Daniel Girardin und Christian Pirker diskutieren solche Fragen in ihrem ausserordentlich spannenden Buch (Controverses: une histoire juridique et éthique de la photographie, musée de l'Elysée, Actes Sud / Lausanne 2008, ISBN 978-2-7427-7432-6 (2008)
Der Titel der hier vorliegenden Portfolios macht somit sicher Sinn: Perceptio heisst Auffassung, Erkenntnis (gemäss Stohwasser lat. Wörterbuch) und wird in anderen Sprachen ("perception") je nach Kontext oft mit mehreren Synonymen für unterschied-liche Wahrnehmungsprozesse verwendet. Die "falsche" Scham eine wahre(?) Fotografie produzieren zu müssen habe ich in Perceptio auf jeden Fall abgelegt.